Internationaler „Memoiren“ – Wettbewerb des Forum, DDR


Der Bauleiter S. arbeitet beim VEB Kombinat Tiefbau Berlin.
Das Trinken habe ich nicht 1972 gelernt, aber trainiert. Gleich am zweiten Tag konnte ich mich beweisen – ein Geburtstag wurde gefeiert.
S. – Bauleiter – , in dessen Zimmer ich verfrachtet wurde, feierte mit den Meistern. Ich war auf der Großbaustelle in Berlin zur Unterstützung der Bauleitung eingesetzt worden.
Am Tage gingen wir mehrmals auf die Baustelle, ich ging nur mit S. hinaus. Während dieser Baubegehungen lernte ich technologische Abläufe kennen. Sah wie man stemmt, wie wertvoll Kompressoren sind, wo die Maurer das Bier verstecken und wo die Zimmerer; hörte wie die Bauarbeiter reden, welche Bemerkungen sie zu „S.s neuer Freundin“ machten.
Anfangs gab es auch gemeiner Bemerkungen und Lügen. Manchmal habe ich geweint. Er wußte nicht immer Rat, wenn ich traurig war.
Ich also wollte Architektin werden, unbedingt, saß nun in einer Baubude und kümmerte mich um Alimente, Zahnarzttermine für die Arbeiter, um Prämien, Stahllieferungen, Protokolle an die Rechtsabteilung, Brigadepläne, Theaterkarten, FDGB-Kassierung. Aber trösten konnte er. Ab und zu sogar mit einem kleinen Referat über den Bewußtseinsstand der Arbeiter in der DDR, auf dieser Baustelle, in diesem Jahr. Und daß ich nicht so „mimosenhaft“ sein solle; es half.

Wir stapften auf der Baustelle durch die Sandberge, und ich erzählte ihm, was ein Simultaneffekt ist. Er schilderte mir, daß er vor Jahren viel getrunken hat.

Wir liefen über Gleisanlagen (ich balancierte und verstieß gegen die ASAO), und ich sagte ihm, daß man bei Unterschieden das Wörtchen „als“ gebraucht.
Er erzählte mir von seiner Mutter, mit der er morgens um drei Uhr Zeitungen austrug. Ich erzählte ihm, warum mir das Tadsh Mahal so gut gefällt; er mir, wie das Leben mit seiner Frau ist, daß sie seine Taschen durchsucht, daß sie sich beide schon einmal betrogen haben. Wir berieten, wie er sich in seiner unglücklichen Ehe verhalten soll.
Wir berieten, wie er das nächste Parteilehrjahr durchführen soll. Ich durfte einmal auch etwas dafür tun. Thema: 5. Tagung des ZK der SED (mit Genehmigung des Parteisekretärs vom Kombinat).
Er achtete meine Probleme. Daß ich mich hier auf dem Bau bewähren soll, wollte er nicht hören. Er sorgte dafür, daß ich Aufgaben bekam, wo ich etwas dazulernte. (Nebenbei machte ich noch einen sogenannten Tiefbaufacharbeiter.)

Mittlerweile gehe ich allein auf die Baustelle, kann einen L 2 von einem T 157 unterscheiden, kenne fast alle Arbeiter mit Namen. Ich erzähle ihm, warum ich von der Hochschule geflogen war. Ich erzähle so, wie man es einem Freund erzählt, er hört zu wie ein Freund.
Ich zeige ihm nach eine paar Monaten mein Exmatrikulationsschreiben, alle Papiere, die Auskunft geben über meine Einschätzung von der Hochschulleitung. Er sagt lange (Wochen) gar nichts.
Viel später bemerkte er bloß einmal, daß ich mich „rausgemacht“ hätte, mein Verhältnis zu den Arbeitskollegen ist gut und konsequent, und daß ich auch mal Essen austeile und nicht mehr hochdeutsch spreche, sei dufte.
Manchmal stank es mich ja an, es wurde um Punkt neun gefrühstückt, egal, ob einem der Magen schon um acht in den Kniekehlen hängt, zehn Minuten Zeitung gelesen (die brachte ich immer mit, er las die Berliner, ich das ND), gegessen wurde immer Bockwurst mit belegter Stulle, die große Ausnahme war, wenn er „verschlafen“ hatte (vier Uhr) und sich keine Stullen mehr machen konnte, ich mich dann bereit erklärte, 200 Gramm Hackepeter und drei Schrippen per Fahrrad zu holen.
Dann setzte ich mich auf eine Kabeltrommel vor das Fenster und las Oscar Wilde oder so. Dann war er gerissen. Beiläufig erfuhr ich (wirklich beim Bockwurstabbeißen), daß ich mich wohl doch unterkriegen lasse, Kopf hoch, na, laß die Arbeiter vom Geld reden, denk daran, daß sie jede Pause Skat spielen, nimm’s nicht so schwer, wenn Plakate im Flur wieder abgerissen werden, daß es noch Uninteressierte gibt, wenn von Vietnam die Rede ist.
Er war oft überarbeitet.
Einmal bin ich nach Wasser gerannt, Herzanfall (mir fiel einfach nichts Besseres ein als Wasser), ich zwang ihn (mit „bitte, bitte, oder ich ruf den Arzt an, das kannst du mir gar nicht verbieten“), sich hinzulegen, den Raum schloß ich ab. Nach 20 Minuten sah ich nach. Weg. Nachschlüssel.
In Mathematik hatte er Schwierigkeiten in der analytischen Geometrie (Fernstudium nach drei Startversuchen). Aber Zeichnungen kann er lesen…. Ich sah nur Striche. Er zeigte mir, daß wir in einer Zeit leben, wo er keine Möglichkeit habe, abends, (wochentags) ins Theater zu gehen. Dazu sagte S., daß es allerdings nicht allen so ginge, sicher nicht, Ungleichheiten im Sozialismus sind noch groß, so daß es für einige nur das eine gibt: von morgens bis abends schwer zu arbeiten.
Er war auch einmal böse – als ich ihn zehn Jahre zu alt schätzte.
Wenn er spricht, kann er nicht hintereinander ein paar Sätze bilden. Trotzdem habe ich ihn hervorragend verstanden. Ich fand es nicht peinlich, noch störte es mich nicht. Außerdem hatte ich die Erlaubnis ihn zu verbessern (aber nur, wenn keiner dabei war).
Nach der Bauleiter- oder Brigadierbesprechung fragte er mich oft, ob ich der Meinung sei, er hätte etwas falsch gemacht.
Die Asche läßt er meistens auf dem Schreibtisch, auf Papiere, auf den Boden fallen.
Daß man sich für ungeleimtes weißes Papier begeistern kann, fand er albern, aber die geputzten Fenster bemerkte er.
Ab und zu schicker er mich los (Connychen, machste mal, aber mit Charme!!) ein paar Arbeitskollegen zu holen, damit sie den schon längst fälligen Beitrag bezahlen.
Das gibt es. Aber nicht nur das.
Sein Arbeitseinsatz grenzt an Selbstaufgabe, zum Schachspielen sind wir einfach nicht gekommen.

Wäre S. nicht, wäre ich vielleicht noch versackt in der Enttäuschung über meine Erfahrung an der Hochschule. Ich habe mich nicht in prinzipiellen Dingen geändert, aber hinzugekommen ist, daß ich mit einer gesunden Haltung versuchen werde, meinen Beitrag auf  meinem Gebiet zu leisten. Falls es einmal schlimm sein sollte, dann weiß ich schon, zu wem ich gehe.
 
Publikation

Cornelia Thömmes, Berlin
mein Jahr 1972

Portraetfoto Arno Fischer 1971 Cornelia Thoemmes

Foto: Arno Fischer, 1971
In der Kunsthochschule Berlin-Weißensee



Portraetfoto Arno Fischer 1971 Cornelia Thoemmes KHB

Foto: Arno Fischer, 1971
Im Hof der Kunsthochschule Berlin-Weißensee




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